Neubeginn

Anmut sparet nicht noch Mühe
Leidensschaft nicht noch Verstand
Daß ein gutes Deutschland blühe
Wie ein andres gutes Land.

Daß die Völker nicht erbleichen
Wie vor einer Räuberin
Sondern ihre Hände reichen
Uns wie andern Völkern hin.

Und nicht über und nicht unter
Andern Völkern wolln wir sein
Von der See bis zu den Alpen
Von der Oder bis zum Rhein.

Und weil wir dies Land verbessern
Lieben und beschirmen wir’s
Und das liebste mag’s uns scheinen
So wie andern Völkern ihrs.

Im Jahre 1996 veröffentlichte die DKP Mörfelden-Walldorf eine Broschüre zum Thema: Neubeginn
Die ersten Jahre nach dem Krieg in Mörfelden und Walldorf. Eine Broschüre zum Beginn der politischen Arbeit nach Faschismus und Krieg.
Als die Nacht verging, Mörfelden, März 1945

In der Nacht zum 23. März 1945 ist keine Ruhe in Mörfelden. Es gibt Truppenbewegungen von West nach Ost; in einem schrecklichen Zug werden Gefangene und Häftlinge durch Mörfelden getrieben. Täglich kommt der Gefechtslärm näher. Mörfelden ist in diesen Tagen fast frei vom Militär. Als jedoch zwei versprengte Wehrmachtspanzer am Nachmittag des 24. März durch den leergefegten Ort fahren, kommt es zum ersten direkten Beschuß durch die amerikanische Artillerie. Ihre ständig kreisenden Artillerie-Aufklärer hatten sie erspäht. Es gibt Einschüsse u.a. in der Brückenstraße, Langener Straße, Groß-Gerauer Straße, in der Mittelgasse und in der heutigen Liebknechtstraße. Schon während des Beschusses werden in Mörfelden zwei weiße Fahnen gehißt. Eine weht am alten hölzernen Sprungturm des Schwimmbades; Ernst Schulmeyer aus der Groß-Gerauer Straße hatte sie aufgehängt. Die andere wird von den Mörfelder Bürgern Heinrich Avemary und Karl Dammel („Schmidt-Karl“) auf dem Gebäude der alten Schule in der Bahnhofstraße gehißt. Ein Angehöriger der Naziwehrmacht reißt sie noch einmal herunter. Auch in der Nacht vom Samstag auf Sonntag gibt es kein Schlafen in Mörfelden. Es wird „ausgeschellt“, die letzten Meldungen verlesen. Frauen und Kinder sollen Mörfelden verlassen, der Volkssturm soll in Richtung Dietzenbach ausrücken. Wenige Stunden später läutet erneut der „Ausscheller“, alle Männer der Jahrgänge zwischen 1890 und 1930 sollen sich sofort melden. Gerüchte gehen um: „In der Bürgermeisterei sitzt die SS.“ Die Mörfelder Nazis verbrennen die Akten - sie finden nicht den Mut, die Jugendlichen, die sich zum Volkssturm melden, nach Hause zu schicken. Bald darauf türmen die Mörfelder Obernazis und Vertreter des Landratsamtes, die in den vorangegangenen Tagen in Mörfelden residiert haben, mit dem Feuerwehrauto. Zuvor haben sie in der Bürgermeisterei ein letztes Gelage veranstaltet. Die zurückflutende Wehrmacht sprengt die Brücken; auch die Autobahnbrücke (Straße nach Langen) fliegt in die Luft. Die meisten Mörfelder Buben und Männer lassen sich jedoch nicht mehr zum Volkssturm pressen. Sie verstecken sich im Wald. Am Sonntag, 25. März 1945, nachmittags, ist es soweit. Amerikanische Truppen betreten Mörfelden. Die ersten kommen die Groß-Gerauer Straße herauf, an der Spitze ein Offizier mit gezogener Pistole. Gleichzeitig rollen amerikanische Panzer vom Oberwald her auf Mörfelden zu. Es gibt keinen Widerstand. Jetzt hat Mörfelden geflaggt. Schon in der Groß-Gerauer Straße hängen sieben weiße Fahnen. In der Langgasse gibt es nicht ein Haus, bei dem nicht wenigstens ein weißes Bettuch am Fenster hängt. In der folgenden Nacht können die Mörfelder zum ersten Mal seit langen Jahren wieder ruhig schlafen. Zwar muß die Verdunkelung noch bleiben, zwar hört man die amerikanische Artillerie, aber man weiß, es wird kein Sirenengeheul geben, es werden keine Bomben fallen.

April 1945, Die ersten Tage ohne Krieg

Wie war das in den ersten Wochen, nachdem die amerikanischen Truppen Mörfelden und Walldorf am 25./26. März 1945 besetzt hatten? Vieles ist nicht überliefert, Fotos aus dieser Zeit sind selten, wer dachte in diesen Tagen an das schriftliche Festhalten der sich überstürzenden Ereignisse? Die Angst stand den Menschen noch ins Gesicht geschrieben, und doch keimte ganz langsam Hoffnung auf bessere Tage. Es gab aber auch viele Sorgen um die, die nicht satt zu essen hatten und um die, die noch nicht wieder aus dem Krieg und der Gefangenschaft heimgekehrt waren. Eine Mörfelder Mutter von drei Kindern setzt sich in diesen Tagen hin, um ihrem Mann zu schreiben, von dem sie nicht weiß, ob er noch lebt und wo er sich befindet, ob er in Kriegsgefangenschaft ist. Sie schreibt unter anderem, „wir sind wie Zigeuner, wir schlafen schon drei Nächte im Keller auf Pritschen, seit heute Nacht fällt kein Schuß mehr“ und an anderer Stelle, „so konnte es nicht weiter gehen, den ganzen Tag Alarm und Tiefflieger, das ist endlich vorbei. Wir haben von acht bis zehn Uhr morgens und mittags von drei bis fünf Uhr Ausgang. Wir wissen ja alle nicht, wo unsere Männer sind, wir können nur hoffen, daß der Krieg bald aus ist und wir uns alle gesund wiedersehen.“ Die nächsten Tage und Wochen wurde in Gemeinschaftsarbeit damit begonnen, die Schäden des Krieges zu beseitigen. Die von Artillerieeinschlägen beschädigten Häuser mußten wieder bewohnbar gemacht werden, in der Feldgemarkung wurden die Bombentrichter beseitigt und die Äcker nach Blindgängern abgesucht. Kein Fleckchen Erde in den Gärten und in den Feldern blieb unbepflanzt, um die Ernährung zu sichern. Auf Befehl der Amerikaner mußten alle männlichen Einwohner am Rathausplatz antreten und wurden auf mehrere schwere Lastkraftwagen verfrachtet, um die beschädigten Start- und Landebahnen am Flughafen wieder herzurichten. Auch wurde nach versteckten Wehrmachtsangehörigen gesucht. Am Mörfelder „Dalles“ wurden die sogenannten wehrfähigen Jahrgänge der männlichen Bevölkerung zusammengerufen, jeder hatte sich auszuweisen. Es wurde nach SS-Angehörigen geforscht, man suchte nach Tätowierungen am Oberarm. In einem der Schulsäle - im heutigen Mörfelder Polizeigebäude - war einer ohne Paß ganz schnell bei denen, die, obwohl sie glaubten, der Krieg sei für sie zu Ende, noch für Jahre in Kriegsgefangenschaft mußten. In letzter Minute kam die Rettung durch zwei Mörfelder Antifaschisten (Wilhelm Völker und Wilhelm Scheuermann), die sich für ihn bei den Amerikanern einsetzten.

Zeit des Mangels

Der Krieg war für die hiesige Bevölkerung zu Ende, aber was blieb, war der Hunger. Eine lange Zeit des Mangels nahm ihren Anfang. Ausgehungerte Menschen umschlichen amerikanische Kantinen, Lebensmittelreste und Kaffeesatz wurden von Müllkippen gesammelt. Improvisation war alles, so wurden wieder alte Stallaternen beigeholt, da doch noch einige Zeit der Strom ausfiel, oder es wurden ganz neue Karbidlampen gebastelt. Die zerstörten Verkehrsverbindungen, insbesondere die wichtigsten Eisenbahnlinien, wurden von der Besatzungsmacht instandgesetzt, denn sie waren für Nachschubtransporte unerläßlich.

Mai 1945

Die Rhein-Main-Region war von den Amerikanern zwar besetzt, aber bis zum 8. Mai, dem Tag der Kapitulation, tobten an vielen Stellen in Deutschland noch furchtbare Kämpfe. Bis zum bitteren Ende wurden auf Befehl von Nazi-Generälen unnötig Blut vergossen, es wurden noch KZ-Häftlinge, Juden und Kriegsmüde auf grausamste Weise ermordet. Auch in Fernost war der Krieg noch nicht zu Ende. Amerikanische Flugzeuge warfen in Japan am 6. und 9. August auf die Städte Hiroshima und Nagasaki Atombomben, die hunderttausende Todesopfer forderten. Nachdem Hitler am 30. April Selbstmord begangen hatte, glaubte sein Nachfolger, Großadmiral Dönitz, die Engländer und Amerikaner noch zur Fortsetzung des Krieges gegen die Sowjetunion animieren zu können. Dieses verbrecherische Vorhaben mißlang. Am 8. Mai ging der zweite Weltkrieg in Europa mit der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation zu Ende. 55 Millionen Menschen verloren von 1939-1945 ihr Leben, allein 40 Millionen in Europa. Das „Tausendjährige Reich“ der Nazis war nach 12 Jahren beendet. Europa war vom Faschismus befreit.

Demokratischer Neuanfang

In Mörfelden, in der Westendstraße, sprangen schon gleich in den ersten Tagen der Befreiung drei amerikanische Offiziere vom Jeep und fragten die Bewohner nach dem kommunistischen Bürgermeister aus der Zeit vor 1933. Sicherlich wußten sie über die politischen Verhältnisse in der Vorhitlerzeit Bescheid und sie suchten Kommunisten, konsequente Antifaschisten, die aktiven Widerstand gegen die Nazis leisteten und deshalb viele Jahre in Zuchthäusern und Konzentrationslagern verbrachten. Georg Zwilling, der gesuchte Bürgermeister, lebte nicht mehr. Er war fünf Monate vorher auf der Heimfahrt nach Mörfelden bei einem Tieffliegerangriff ums Leben gekommen. Aber es waren 13 Bürger dieser Stadt, darunter 11 Kommunisten - noch nicht lange aus Zuchthäusern und Konzentrationslagern entronnen - die bereit waren, den sprichwörtlichen Karren aus dem Dreck zu ziehen. Die Männer der ersten Stunde, die sich freiwillig für die vielen Aufgaben zur Verfügung stellten, waren in Mörfelden: Viktor Büttner, Karl Dammel, Adam Denger, Wilhelm Feutner, Karl Hardt, Heinrich Hechler, Peter Klingler (der spätere Bürgermeister) Wilhelm Neumann, August Schulmeyer, Wilhelm Siegel, Ludwig Schulmeyer, Erich Wilker und Wilhelm Völker. In Walldorf übernahm am 1. April 1945 der 1933 abgesetzte sozialdemokratische Bürgermeister Adam Jourdan das kommunalpolitische Ruder. Ihm zur Seite standen u.a. Konrad Steckenreiter, Ferdinand Auer, Ludwig Scherer, Konrad Schneider, Wilhelm Zwilling (Amme-Seppel), Wilhelm Passet und Adam Kahl. Viele Aufgaben mußten gelöst werden. In erster Linie war das Beschaffen von Lebensmitteln zu organisieren. Das Transportsystem war zusammengebrochen, sodaß auf Pferdefuhrwerke und Lastwagen mit Holzvergasern zurückgegriffen wurde. Lebensmittel mußten im Odenwald und in Oberhessen organisiert werden. Die Wohnungsnot wurde täglich größer. Viele Menschen verloren, ausgelöst durch die Nazi-Verbrechen in den östlichen Ländern, ihre Heimat und kamen auch in unsere Gemeinden. Zwangseinweisungen waren erforderlich und kein Wunder, daß sich die, die diese Aufgabe freiwillig übernommen hatten, unbeliebt machten. Lange Zeit gab es kein elektrisches Licht, zwischen 20 und sieben Uhr durfte sich niemand ohne Erlaubnis der Amerikaner auf der Straße sehen lassen. Mehr als fünf Personen durften sich nicht versammeln. Und doch gab es einen neuen Anfang, begann das politische, kulturelle und sportliche Leben. Schon im Mai trafen sich im Rathaus Peter Klingler, Ludwig Geiß und Ludwig Schulmeyer zu ersten Gesprächen über die Zukunft der Sport- und Kulturbewegung in Mörfelden. Die Gründung von Parteien war noch verboten, jedoch wollten Sozialdemokraten und Kommunisten die Lehren aus der Vergangenheit ziehen und somit die Trennung in der Arbeiterbewegung überwinden.

Die Verfolgten waren die ersten beim Wiederaufbau

Es waren Antifaschisten, Sozialdemokraten und Kommunisten - manche gerade erst aus dem KZ befreit - in Mörfelden und Walldorf und in vielen anderen Städten Deutschlands, die sich sofort zur Verfügung stellten. Das Transportsystem und somit die Versorgung der Bevölkerung war durch die letzten Kriegsereignisse zusammengebrochen. Als erstes mußte für Lebensmittel und Hausbrand gesorgt werden. Auch die Verwaltungen waren neu aufzubauen. Die Nazis hatten auch in den Rathäusern oft „verbrannte Erde“ hinterlassen. Die Männer der ersten Stunde hatten die Befehle der Besatzungsmacht auszuführen und bekamen zur Erkennung weiße Armbinden mit der Aufschrift „Polizei“ ausgehändigt. Auch die politischen Parteien und die Gewerkschaften begannen mit ihrem Neuaufbau. Das Bemerkenswerte dieser Zeit, daß fast alle Parteien den Sozialismus forderten. Angesichts dieser Volksstimmung (auch in den Westzonen) wollte sogar die CDU in ihrem Ahlener Programm „die Auflösung der Konzerne“. Die KPD forderte in einem Aufruf am 11. Juni 1945 ein antifaschistisches, demokratisches Deutschland, mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk. Kurt Schumacher, der spätere Vorsitzende der SPD, sagte: „Sozialismus ist nicht das ferne Ziel, er ist die Aufgabe des Tages“. In dieser Zeit hatte sich die Zielstellung von Kommunisten und Sozialdemokraten derart genähert, wie es seit der Spaltung nach dem ersten Weltkrieg, nicht mehr der Fall war. Gemeinsam waren sie von den Faschisten gejagt, gefoltert und getötet worden, gemeinsam hatten sie Widerstand geleistet. Auf beiden Seiten war die Erkenntnis gereift, daß die Spaltung der Arbeiterbewegung den Sieg des Faschismus ermöglicht hatte. In allen Ländern der heutigen Bundesrepublik gab es Arbeitsgemeinschaften zwischen KPD und SPD. Es sah damals so aus, als käme es zu einer Vereinigung der beiden Arbeiterparteien. Der Zentralausschuß der SPD veröffentlichte am 15. Juni 1945 im Namen der Gesamtpartei einen Aufruf, in dem es u.a. hieß: “Demokratie in Staat und Gemeinde, Sozialismus in Wirtschaft und Gesellschaft ! Wir sind bereit und entschlossen hierbei mit allen gleichgesinnten Menschen und Parteien zusammenzuarbeiten. Wir begrüßen daher aufs wärmste den Aufruf des ZK der KPD vom 11. Juni 1945. Jedes eigensüchtige Parteiengezänk, wie es das politische Schlachtfeld der Weimarer Republik erfüllte, muß im Keime erstickt werden.“ Auch in Mörfelden gab es Versuche, zu einer Arbeitereinheit zu kommen. Zur ersten öffentlichen Versammlung nach dem Kriege, sie fand am 10. November 1945 in der „Ludwigshalle“ („Sattler“) statt, lud die KPD Mörfelden Pfarrer Merten (später SPD-Abgeordneter im Bundestag) und den Vorstand der SPD ein. Auf Initiative der KPD trafen sich die Vertreter beider Arbeiterparteien am 1. Januar 1946 zu einem ersten Gespräch. Weitere Zusammenkünfte dieses Einheitskomitees fanden statt. Diese richtigen Einsichten wurden jedoch bald abgelöst durch erneutes „von einander Abrücken“. Der „Kalte Krieg“ begann. Auf der einen Seite begann ein von den westlichen Besatzungsmächten und der deutschen Reaktion eingeleiteter Antikommunismus. Sie betrieben die Geschäfte des Großkapitals, das natürlich Angst haben mußte vor der Vereinigung der beiden Arbeiterparteien. Während des Parteitages der SPD in Hannover am 10. Mai 1946, schrieb das Hauptquartier der britischen Militärregierung: „...es liegt nicht im Interesse der Militärregierung, eine Verschmelzung der SPD mit der KPD zuzulassen. In Folge dessen sind alle Versammlungen, die eine solche Verschmelzung als Ziel haben, nicht zugelassen“. Auf der anderen Seite, in der damaligen sowjetischen Besatzungszone, diktierte natürlich auch die dortige Besatzungsmacht zu einem Großteil den Kurs der örtlichen Organe. Die Sowjetunion unter Stalin, militärisch stark, aber wirtschaftlich durch den Krieg am Boden, hatte natürlich Angst vor einer neuen antikommunistischen Politik der Westmächte, die nun auch noch die Atombombe besaßen. In diesen Tagen wurden in den von der Sowjetunion besetzten Ländern, viele Fehler und Verbrechen begangen.

Es ging um’s Überleben

Vor 50 Jahren war die Not allgegenwärtig. Durch die Kriegshandlungen und Bombardierungen, aber auch durch die alles zerstörenden Handlungen der Nazis, war die Versorgung der Bevölkerung total zusammengebrochen. Hitler ordnete noch am 19. März 1945 in einem Führerbefehl an: „Sämtliche Industrie- und Versorgungseinrichtungen, alle Nachrichten- und Verkehrsverbindungen im Reich sind zu vernichten. Es ist nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das deutsche Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil es ist besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Denn das deutsche Volk hat sich als das schwächere erwiesen, was nach diesem Kampf übrigbleibt, sind ohnehin nur die Minderwertigen.“ Die Lebensmittelrationen waren zum Sterben zu viel, aber zum Leben zu wenig. 150 Millionen Menschen litten in Europa Hunger. In den Städten waren ein Großteil der Wohnungen zerstört. Die Wasser- und Stromversorgung, sowie die Heizungen waren noch defekt. Etwas Glück hatte die Bevölkerung in ländlichen Regionen. Auch in Mörfelden und Walldorf waren die noch gut dran, die einen Garten oder ein Äckerchen hatten. Hühner und Hasen halfen zu überleben. Bucheckern wurden gelesen und mit selbstgefertigten Pressen Öl hergestellt. Die Raucher befriedigten ihre Sucht mit selbstgepflanztem Tabak, genannt „Scheierbambeler“, weil er oft an den Scheunentoren zum Trocknen aufgehängt wurde. „Hamstern“ und „Schrotteln“, sowie „Ährenlesen“ und „Kartoffelstoppeln“ auf abgeernteten Äckern, waren gängige Begriffe. Bahn und Post begannen langsam ihren Betrieb. Es waren nur offene Postkarten, beschrieben in lateinischer Schrift, erlaubt. Züge aus südlicher Richtung konnten den Frankfurter Hauptbahnhof , wegen der zerstörten Brücken, noch lange Zeit nicht anfahren. Zwischen Hessen und dem Ruhrgebiet wurden in den letzten Kriegstagen von der Hitlerwehrmacht zuletzt noch 56 Eisenbahnbrücken gesprengt. Auf Anordnung der Militärbehörden mußten alle privaten Kraftfahrzeuge (Pkw und Motorräder) sowie alle Fotoapparate auf dem Rathaus abgeliefert werden.

Das Schlimmste war vorbei

Im Sommer 1945 dachten die Menschen, das Schlimmste ist nun vorbei. Das Schlimmste war die ständige Angst um das eigene Leben und um das der nächsten Angehörigen. Viel Trauer und Leid war dort anzutreffen, wo der Sohn oder der Ehemann als Gefallener gemeldet waren, und viele bangten auch noch um die in Gefangenschaft befindlichen, von denen sie noch keine Nachricht hatten. Ein Mörfelder, 1933 wegen Widerstandes gegen die Nazis im Gefängnis, schreibt am 19. Oktober 1945 aus französischer Gefangenschaft, wo er in einer Zementfabrik arbeitete, daß er jetzt das erstemal schreiben dürfe und er aber immer noch keine Nachricht von zu Hause habe. Es war nach einem Jahr das erste Lebenszeichen, das seine Frau mit ihren drei Söhnen erhielt. Er schreibt: „Hoffentlich habt ihr die Zeit gut überstanden und seid gesund geblieben. Liebe Frau, das und vieles andere interessiert mich mehr als etwas gutes zu Essen und zu Trinken. Wenn Du mir schreibst, bitte nichts vergessen, auch wer nun Bürgermeister ist und was ihr mit der braunen Pest gemacht habt“. Er schreibt noch weitere Briefe in Ungewißheit. Erst im Februar 1946 erhält er die erste Nachricht von zuhause, also ein Jahr nachdem die Amerikaner das Rhein-Main-Gebiet befreit hatten. Er weiß nun, daß alle noch am Leben sind und schreibt in einem weiteren Brief: „Leiden für eine Sache, gegen die man selbst Jahre gekämpft und gelitten hat, ist doppelt schwer“. Seine Frau antwortet etwas verbittert, „die Nazis sind zu Hause und ihr müßt leiden für die, die Schuld an allem haben.“ Aber auch zu Hause war die Not noch groß. Es gab nicht genug zu essen, die Lebensmittelrationen wurden gekürzt anstatt erhöht. Zum Kochen und Heizen wurde so mancher Baum des Nachts im Wald heimlich gefällt. Uniform-Mäntel,-Röcke- und -Hosen wurden umgefärbt und zu zivilen Kleidungsstücken umgeändert. Schneiderinnen zauberten die schönsten Seidenblusen aus Wehrmachtsfallschirmen. Zuckersäcke wurden aufgezogen und daraus Pullover gestrickt und alte Hemden erhielten neue Krägen.

Aufbau in den Betrieben

Schon bald nach Kriegsende wurden die Betriebe von den Arbeitern wieder aufgebaut, die Maschinen repariert und mit der Produktion begonnen. Dabei war es so, daß die, die erneut die Werte schufen, dafür Lohn erhielten, der nichts wert war (bis zur Währungsreform 1948). Allein eine Glühbirne kostete damals auf dem Schwarzmarkt 100,- Mark. Die Unternehmer, nicht selten Anhänger und Unterstützer der Nazis, hatten schon bald mit den geschaffenen Produkten die Möglichkeit, ihren Reichtum zu vermehren, gegen Naturalien einzutauschen, oder die Produktion zu horten, um sie nach der Währungsreform für gutes Geld zu verkaufen. Die Vertreter der Wirtschaft, darunter auch Wehrwirtschaftsführer Hitlers, hatten bald wieder alle Macht in Händen.

Die "vier D" sollten durchgesetzt werden

Am 17. Juli 1945 begann die Potsdamer Konferenz der Alliierten mit Stalin, Truman und Churchill (später durch Attlee ersetzt), in der die Regelung für das künftige Schicksal Nachkriegs-Deutschlands getroffen werden sollte. Es wurde vor allem beschlossen die „vier D“ durchzusetzen und zwar: „Demokratisierung, Demilitarisierung, Denazifizierung und Dezentralisierung“. Auf diese Weise sollte erreicht werden, daß „Deutschland niemals mehr seine Nachbarn oder den Frieden in der Welt bedrohe“. Aus den Fehlern der Vergangenheit sollten Lehren gezogen werden 1945 sollte ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland entstehen, das niemals mehr seine Nachbarn oder den Frieden in der Welt bedroht. Der Nazismus mit all seinen Wurzeln und Ursachen sollte für immer beseitigt werden. Zu den Wurzeln und Ursachen gehörte auch die Macht der Banken, Konzerne, Monopole und Großgrundbesitzer, die Hitler an die Macht gebracht hatten und gut an seiner Politik verdienten, sowie Interesse an seinen Plänen der Eroberung Europas hatten. So haben es die Alliierten beschlossen und das war auch die Meinung der Mehrheit der Bevölkerung. Dieser antifaschistische Konsens reichte von den Sozialdemokraten, den Kommunisten, über die Gewerkschaften bis weit in die CDU hinein. Die Spaltung in der Arbeiterbewegung, die mit zum Sieg der Nazis 1933 beitrug, sollte ein Ende haben.

Das Vereinsleben beginnt

Örtlich begann in den ersten Monaten nach Kriegsende bald wieder das Vereinsleben. Oft waren es die noch lebenden Vertreter der 12 Jahre von den Nazis verbotenen Arbeitervereine, Kommunisten, Sozialdemokraten und Parteilose, die sich beispielhaft und richtungsweisend für die Einheit in Sport und Kultur einsetzten. In der Sport- und Kulturbewegung sollten ebenfalls die Lehren aus dem „Gegeneinander“ vor 1933, gezogen werden. In Mörfelden beschlossen bereits am 10. Juni 1945 die Vertreter aus früheren Vereinen einstimmig, daß in Zukunft nur ein Verein bestehen soll.

Das erste Fußballspiel

Die ersten Impulse zum Aufbau eines organisierten Sportbetriebes in Groß-Gerau gingen am 29. Mai 1945 von Mörfelden aus. Das erste Fußballspiel im Kreis Groß-Gerau fand bereits am 15. Juli 1945 zwischen Mörfelden und Nauheim auf dem Sportplatz am „Grünen Haag“ statt. In Walldorf verlief die Entwicklung ähnlich. Wenige Tagen nach den Ereignissen in Mörfelden wurden per Ausscheller alle Sportinteressenten zu einem Treffen in die Gaststätte Nohl-Becker eingeladen. Vertreter der vor 1933 vorhandenen Vereine waren anwesend. Der spätere Vorsitzende des Sportkreises Groß-Gerau, der Mörfelder Ludwig Schulmeyer („Bette-Lui“), als kommunistischer Widerstandskämpfer gegen Hitler sechs Jahre im Zuchthaus, sprach sich für die Bildung einer Sportgemeinschaft aus, da auch die amerikanische Militärregierung nur einen Verein zulassen würde. So wurde die „Sportgemeinschaft Walldorf“ gegründet. Jedoch im Juni 1946 erfolgte schon wieder, ausgelöst durch sachliche und persönliche Differenzen zwischen den früheren „Freien Turnern“ und der „Viktoria“, die Trennung. Aus „Viktoria“ wurde der „SV Rot-Weiß“ und aus der „Sportgemeinschaft“ wurde nach dem Beitritt des „Volkschores 1906“ die „Sport- und Kulturgemeinschaft“ (SKG).

Der Verbandstag in Mörfelden

Der erste ordentliche Verbandstag des Landessportverbandes Hessen e.V. war am 12. und 13. Juli 1947 im Mörfelder Volkshaus. Auch hier finden wir ganz oben den Wunsch nach der Einheit in der Sportbewegung. Aus dem Protokoll des 1. ordentlichen Verbandstages des Landessportverbandes Hessen:

1. Tag. - Sonnabend, den 12. Juli 1947 Beginn: 10 Uhr morgens
Der 1. Vorsitzende des Landessportverbandes Hessen, Regierungsrat Lindner, eröffnet den 1. ordentlichen Verbandstag des Landessportverbandes Hessen um 10.30 Uhr mit folgenden Worten: „Meine Herren ! Der 1. ordentliche überfachliche Verbandstag unseres Landessportverbandes Hessen ist eröffnet. Es spricht zunächst zu Ihnen der Bezirksvorsitzende des Sportbezirks Darmstadt, unser Sportfreund Schulmeyer.
Schulmeyer: Sportfreunde! Im Auftrage der Sport- und Kultur-Vereinigung Mörfelden entbiete ich allen Delegierten, Gästen und Vertretern zum 1. Verbandstag ein herzliches Willkommen! Gleichzeitig darf ich diesen Willkommensgruß auch überbringen für den Sportkreis Groß-Gerau und für den Sportbezirk Darmstadt. Freude und Hoffnung erfüllen uns, Freude und Dank darüber, daß dieser historisch bedeutsame 1. Verbandstag des Landessportverbandes hier in Mörfelden stattfindet, in einem Volkshaus und in einer Landgemeinde. Ich sehe darin ein gutes Vorzeichen, wird doch damit gezeigt, daß schon am Anfang seines Weges der Landessportverband Hessen den Landvereinen eine gebührende Beachtung beimißt. Deshalb freuen wir uns ganz besonders darüber und hegen damit zugleich auch die Hoffnung auf die Erfüllung von Wünschen, die der Gesamtmitgliedschaft zum Vorteil gereichen. Der Verbandstag hat sich für seine Tagung eine Arbeitsstätte gewählt, die Symbol und Wahrzeichen einer fortschrittlichen, friedlichen und demokratischen Weltanschauung ist. Die Mörfelder sind ganz besonders stolz auf ihr Volkshaus. Es zeugt von vorbildlichen Ideen und einem vorbildlichen Geist und von ihrem Wollen. Dieses Wollen strebt nach Größe, nach Leistungssteigerung und nach Gemeinsamkeit. Ist es daher überhaupt noch verwunderlich, wenn die Sportler von Mörfelden sich schon längst zu einem einheitlichen, zentralen Verein zusammengeschlossen haben, wenn sie als Sport- und Kultur-Vereinigung jede gewünschte Sportart pflegen und in gleicher Weise auch das Kulturelle und so auf ihre Weise nach Vollkommenheit streben. So sehen wir in dieser echten örtlichen Sport- und Kultur-Gemeinschaft neben dem Sportler den Sänger, neben dem Freund der Musik den Wanderer. Und dieses Volkshaus, in dem wir heute tagen, wurde uns zum Symbol und zur Richtschnur für unsere Aufbauarbeit an und in unserem Volke. Als in den ersten Mai-Tagen des Jahres 1945 die aufrechten Männer des Sports hier in Mörfelden sich zusammenfanden, da kam es wie ein Gelöbnis aus aller Munde: nie mehr Zersplitterung, nie mehr ein Nebeneinander oder gar ein Gegeneinander! Und in der Erkenntnis des hinter uns Liegenden wurde damals wenigstens hier der Grundstock gelegt für einen neuen demokratischen Volkssport. Und dieser Volkssport hält die Tore weit offen für alle, die guten Willens sind. Diese Grundsätze bildeten zugleich auch die Richtschnur für den Aufbau im Sportkreis Groß-Gerau, der am 5 . Juni 1946 nach diesen Richtlinien seine Arbeit begann. Und weiter und darüber hinaus wurden sie auch Richtschnur für die Aufbauarbeit im Sportbezirk Darmstadt. Der Sportkreis Groß-Gerau und der Sportbezirk Darmstadt können, auf diesen Grundsätzen fußend, in der kurzen Zeit ihres Bestehens immerhin schon auf recht beachtliche Erfolge zurückblicken. Ich darf aber bei diesem Rückblick auf die bereits erzielten Erfolge die Gelegenheit nicht versäumen, einem Manne Dank abzustatten, der diesen Dank in ganz besonderer Weise verdient, brachte er uns doch stets bei unserer Aufbauarbeit im Sportkreis Groß-Gerau die gebührende Erkenntnis, das nötige Verständnis und das größte Wohlwollen entgegen. Ich danke daher im Auftrage der Sportler des gesamten Sportkreises Groß-Gerau unserem Herrn Landrat Harth, der heute hier unter uns weilt, ganz besonders aufrichtig. Dieses enge Einvernehmen zwischen unserem Landrat und uns Sportlern des Sportkreises Groß-Gerau möchten wir nie mehr missen. Zum Schluß meiner Begrüßungsworte darf ich den Wunsch aussprechen, daß unsere Tagung vollen Erfolg haben möge im Interesse des Blühens und Gedeihens des Landessportverbandes Hessen. Ich sprach vorhin von der Sport- und Kultur-Vereinigung Mörfelden. Ich erlaube mir, Ihre Aufmerksamkeit nun auf die Gesangsabteilung dieser Vereinigung hinzulenken, die uns jetzt unter der vorzüglichen Leitung ihres Dirigenten, des Herrn Diether, einen ganz besonderen gesanglichen Willkommensgruß entbieten wird. Ich danke Ihnen.“

Die Einheit der Arbeiterparteien kam nicht zustande

Im politischen Bereich war in großen Teilen der beiden Arbeiterparteien SPD und KPD die Bereitschaft zur Einheit vorhanden. Sie wurde aber, nicht zuletzt von Seiten der englischen und amerikanischen Besatzungsmächte und den sich in den alten Sesseln breit machenden Vertretern des deutschen Kapitals, verhindert. Für die amerikanische Militärregierung war das, was die ehemaligen deutschen Widerstandskämpfer gegen Hitler wollten, fremd und sie hatten Anweisung, in erster Linie zwei Ziele zu verfolgen: Aus „ihrem Teil Deutschlands“ ein Abbild der USA-Gesellschaft zu machen und alles zu bekämpfen, was sie als „Kommunismus“ betrachteten. Dazu zählten unter anderem auch die deutsche Gewerkschaftsbewegung und die Sozialdemokratie.
Ähnlich verlief es in den Betrieben
Fritz Zängerle, der Betriebsratsvorsitzende der ersten Stunde bei Opel in Rüsselsheim, berichtete über ähnliche Ereignisse. Nachdem mehr als 50% der Produktionsanlagen zerstört waren, standen erst einmal Aufräumungs- und Instandsetzungsarbeiten an. Später trat die Ersatzteilfertigung hinzu und ab 1946 konnte mit der Produktion des eineinhalb Tonner Opel-Blitz-Schnelllastwagens begonnen werden. Während dieser Zeit des Neubeginns hatte die amerikanische Militärregierung die Leitung des Werkes treuhänderisch übernommen. Aber von Unterstützung der betrieblichen Interessenvertreter, also der demokratischen Einrichtung in den Betrieben durch die Amerikaner, konnte keine Rede sein. Erst sehr spät gegenüber anderen deutschen Gebieten wurde die Genehmigung zur Bildung von Gewerkschaften erteilt. Noch im Herbst 1945 konnten Betriebsversammlungen nur außerhalb der regulären Arbeitszeit stattfinden. Auch die erste Betriebsratswahl wollten die Amerikaner annullieren, da ihnen die Linkskräfte zu stark vertreten waren.

Hammann wurde kaltgestellt

Weil der neue Landrat im Kreis Groß-Gerau, Wilhelm Hammann, kommunistischer Landtagsabgeordneter vor 1933 und bis 1945 in Buchenwald inhaftiert, u.a. die Forderung stellte, alte Nazis aus der Opel-Betriebsleitung zu entfernen, wurde er kurzerhand von den Amerikanern ohne Prozeß aus dem Verkehr gezogen und für 14 Monate u.a. im ehemaligen KZ Dachau inhaftiert. (Wenn man heute viel von den Vorkommnissen in der damaligen Ostzone erfährt, sollte man auch wissen, was im Bereich der westlichen Besatzungszonen alles so passierte.) Während andere nur an sich dachten und sich auf Hamsterfahrten begaben, stellten sich auch in unserer Stadt, sofort im Frühjahr 1945, ehrenamtlich Helfer, darunter nicht wenige Antifaschisten, die viele Jahre im Zuchthaus oder KZ waren, zur Verfügung. Sie traten an, um die Not zu mildern, der Bevölkerung in vielen Dingen zu helfen und die Verwaltung wieder in Gang zu setzen. Aus alten Unterlagen ist ersichtlich, daß der Sozialdemokrat Artur Wolf und der Kommunist Karl Hardt, bereits am 31. 7. 1945, wie in einem Brief an Bürgermeister Klingler angekündigt, einen Bürgerausschuß zu seiner ersten Sitzung einladen wollen. Am Sonntag den 9. September 1945 fand dann vorgenannte Sitzung statt, an der auch der Landrat Hammann aus Groß-Gerau teilnahm. Eine der ersten Forderungen des Ausschusses an den Landrat, zur Weiterleitung an die zuständige Stelle, war die Aufnahme des Zugverkehrs nach Frankfurt. Es heißt darin: “Es müßten je zwei Arbeiterzüge morgens und abends eingesetzt werden. Der schlechte Zustand der Fahrräder und die Knappheit an Gummibereifung, machen es vielen Leuten unmöglich, an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Soll der Wiederaufbau Frankfurts durchgeführt werden, dann müssen unsere Leute mit der Eisenbahn befördert werden. In normalen Zeiten fahren täglich 2000 Arbeiter und Angestellte nach Frankfurt, Opel Rüsselsheim, oder Glanzstoffwerke Kelsterbach. Die Abfahrtszeiten müßten zwischen sechs und sieben Uhr Richtung Frankfurt und zwischen 17.30 und 18.30 Uhr von dort zurück festgesetzt werden. Als Endstation dürfte sich Frankfurt-Süd empfehlen, da die Niederräder Mainbrücke noch zerstört ist“. Einem weiteren Protokoll von Bürgermeister Klingler aus dieser Zeit entnehmen wir die Kriegsschäden in der Gemeinde Mörfelden. Es gab 58 Bauschäden, darunter 10 große und 43 mittlere Schäden an Wohnungen, sowie 5 an Stallungen und Scheunen. Die sofort einsetzende, unentgeltliche Gemeinschaftsarbeit der Bevölkerung brachte bis Mitte Mai die Arbeiten zu Ende.

Die Schule beginnt wieder

Am 17. September 1945 begann auch im Kreis Groß-Gerau wieder die Schule. In Mörfelden waren es laut Aufzeichnungen 700 bis 800 Kinder in 14 Klassen denen nur drei unbelastete Lehrer zur Verfügung standen. Klingler schreibt in diesen Tagen: “Wir hatten einmal ein hoch entwickeltes Schulwesen - tief bedauerlich, daß ein großer Teil der Lehrerschaft an der Zerstörung mitgewirkt hat“.

Herbst 1945, Die erste Regierung

Nach Eisenhowers Proklamation für „Groß-Hessen“ wurde bereits am 12. Oktober von der amerikanischen Militärregierung der parteilose Professor Karl Geiler als Ministerpräsident für Hessen eingesetzt. Ihm zur Seite stellten die Amerikaner, neben politisch ungebundenen Personen, Vertreter inzwischen zugelassener Parteien. Da sich Sozialdemokraten und Kommunisten in der Regierung nicht genügend verankert sahen, protestierten sie in einem gemeinsamen offenen Brief an Ministerpräsident Geiler und drohten mit Boykott. Daraufhin bildete Geiler das Kabinett am 1. November um, in dem sich nunmehr 10 Minister befanden. Die SPD erhielt 4 Minister und KPD, CDU und LPD erhielten je einen Minister, die restlichen Ressorts wurden mit Parteilosen besetzt. Zum Arbeitsminister wurde bereits am 12. Oktober 1945 Oskar Müller von der KPD ernannt. Er war der letzte Lagerälteste des Konzentrationslagers Dachau. Der Druck der beiden Arbeiterparteien richtete sich in erster Linie gegen die Anordnungen der Militärregierung, die oft nach eigenem Geschmack, aber auch eigenen politischen Interessen, die „Honoratioren“ ausgesucht, protegiert und ernannt hatten. Diese Personen waren fast nie ehemalige Widerstandskämpfer oder gar Arbeiterfunktionäre.

Wahlen

Am 20. und 27. Januar 1946 fanden die ersten Kommunalwahlen in dem damaligen Land Groß-Hessen statt. Das Gemeindewahlgesetz vom 15. 12. 1945 bestimmte, daß die Gemeindevertretungen aller Gemeinden (mit Ausnahme der Stadtkreise und der Städte mit über 20.000 Einwohnern und der Landgemeinden mit nicht mehr als 40 Wahlberechtigten) für die Dauer einer Wahlzeit von zwei Jahren neu zu wählen und Wahltage der 20. Januar und der 27. Januar sind. Am 28. April 1946 folgten die Gemeindewahlen - für die Dauer einer Wahlzeit von zwei Jahren - in den kreisangehörigen Städten mit über 20.000 Einwohnern. Für den 28. April 1946 wurden auch - für die Dauer einer Wahlzeit von zwei Jahren - die Kreistagswahlen in allen Kreisen angesetzt. Am 26. Mai 1946 folgten schließlich die Gemeindewahlen - für die Dauer einer Wahlzeit von zwei Jahren - in den kreisfreien Städten.
Den Kommunalwahlen folgten: Am 30. Juni 1946 die Wahlen für die verfassungsberatende Groß-Hessische Landesversammlung und am 1. Dezember 1946 der Volksentscheid über die Verfassung und die Wahl des Landtags des Landes Hessen. Der relativ frühe Wahlermin sollte ein Beweis demokratischen Willens sein, in der Praxis war alles viel komplizierter. In den meisten Orten hatten die Parteien aufgrund der bisherigen Behinderungen noch gar keine Organisation aufbauen können. Außerdem wählten am ersten Wahlsonntag nur Orte mit weniger als 20.000 Einwohnern. Stärkste Partei, mit 42 Prozent, wird die SPD, gefolgt von CDU mit 36,9 Prozent, KPD 9,3 Prozent und LDP 7,3 Prozent. Dabei muß berücksichtigt werden, daß die Amerikaner zuvor - vor allem, um die KPD auszuschalten - eine 15-Prozent-Sperrklausel diktiert hatten. Aus den beiden damals noch selbständigen Gemeinden Mörfelden und Walldorf, sind folgende Wahlergebnisse bekannt: In Mörfelden erhielt die SPD 75,7 Prozent, die KPD 24,3 Prozent. In Walldorf erhielt die SPD 56,1 Prozent, die CDU 32,6 Prozent und die KPD 11,3 Prozent. Die CDU war in Mörfelden noch nicht angetreten.

Erste Prozesse gegen Nazi-Verbrechen

Langsam kamen die Verbrechen der Nazis ans Licht. Am 8. Oktober 1945 begann in Wiesbaden der erste Prozeß gegen NS-Verbrecher in der amerikanischen Zone. Wegen Mordes hatten sich angeklagte Ärzte und Pflegepersonal aus der früheren „Heilanstalt Hadamar“ zu verantworten. Bis Mitte 1941 wurden allein in Hadamar mindestens 10000 Erwachsene ermordet. Nicht in dieser fast unfaßbaren Zahl sind enthalten die vielen Kinder, darunter auch Neugeborene, „schwer erziehbare“, oder „Nichtarische“ bzw. „Mischlingskinder“, denen das Recht auf Leben abgesprochen wurde. Aber auch polnische und sowjetische „Ostarbeiter“ wurden noch bis 1945 dort vergiftet, wenn sie krank oder nicht mehr arbeitsfähig waren. Geistig und körperlich Behinderte, sowie psychisch Kranke, auch aus den damals noch selbständigen Gemeinden Mörfelden und Walldorf, kamen in der Zeit von 1933 bis 1945 zur Behandlung meistens nach Goddelau in die psychiatrische Klinik Philipps-Hospital. Im Volksmund hieß es, „der kam nach Crumschd“ (Crumstadt), andere sagten, nach „Golle“ (Goddelau). In beiden Fällen wurde damit das Philipps-Hospital gemeint, das im Kreis Groß-Gerau zwischen den Gemeinden Crumstadt und Goddelau liegt. Ab 1940 wurde auch dort, durch die Erfassung der Patienten in einer Meldebogen-Aktion, die „Euthanasie“ vorbereitet. In mehreren Transporten im März, Juni und September 1941, aber auch noch danach, wurden die selektierten Patienten in andere Anstalten „verlegt“. Die Transporte gingen in die „Euthanasie“-Mordanstalten, in der Regel nach Hadamar in die damalige Landes-Heil- und Pflegeanstalt. Mit Beginn des Krieges am 1. September 1939 wurde in die Tat umgesetzt, was ideologisch schon jahrelang vorbereitet worden war. Ärzte und Pfleger halfen mit bei der „Euthanasie“, bei der Ermordung von als „unnütze Esser“ diffamierten Menschen. Pflegebedürftige, körperlich und geistig behinderte Menschen wurden durch Gas getötet und ihre Leichen verbrannt. Auch Patienten aus Mörfelden und Walldorf waren von dieser Aktion betroffen. Um wieviele es sich handelte, ist bis zum heutigen Tage noch nicht erfaßt worden.

Flucht und Vertreibung

Der von Hitler und dem hinter ihm stehenden Großkapital inszenierte zweite Weltkrieg hinterließ über 50 Millionen Tote, 35 Millionen kamen verkrüppelt aus den Schlachten. Ohne die Nationen der vielen Opfer alle aufzuzählen, seien stellvertretend nur drei Länder genannt, die in diesem verbrecherischen Kriege die meisten Tote zu beklagen hatten. Es waren die Sowjetunion mit 20 Millionen, Polen mit 6 Millionen und Deutschland mit ebenfalls 6 Millionen Menschen. Als Folge des Krieges trifft viele Deutsche das Schicksal von Flucht und Vertreibung. Schon 1944 zog ein großer Flüchtlingstreck aus Angst vor der näher rückenden Front westwärts. Nach Kriegsende wurden die meisten der gut 19 Millionen in ostdeutschen und osteuropäischen Gebieten lebenden Deutschen auf Beschluß der Alliierten, nach Westdeutschland vertrieben. Aus den ehemaligen „Ostgebieten“, aus Polen, der UdSSR, der Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien und Rumänien, kamen bis 1950 etwa 12 Millionen Deutsche. Auf der Flucht verloren 2 Millionen Menschen ihr Leben. Nur das nötigste mit sich führend, kamen im Herbst 1945 die ersten Flüchtlinge, Heimatvertriebene, oder Neubürger, wie man sie später nannte, auch in den beiden Gemeinden Walldorf und Mörfelden an. Nach der Zuweisung in Notunterkünfte, folgte die Verteilung auf Wohnungen. Freien Wohnraum gab es schon lange nicht mehr, sodaß Zwangseinweisungen kaum zu umgehen waren. In beiden Orten waren es unter anderem auch Kommunisten, die die unangenehme Aufgabe als Quartiermacher übernahmen. In Walldorf war es die heute 97jährige Else Henk und in Mörfelden, der für Wohnungsfragen zuständige August Schulmeyer („Belser-August“). 1961 waren in Walldorf 2118 Heimatvertriebene registriert, bei einer Gesamtbevölkerung von 9731, also 21,8%. 1956 hatte Mörfelden 8731 Einwohner, wovon mehr als ein viertel ihrem Ursprung nach zu dem neuen, aus Umsiedlung und Evakuierung hervorgegangenen Bevölkerungsteil gehörte. Hinter diesen Zahlen steht großes Leid und Trauer über die verlorene Heimat und das zurückgelassene Hab und Gut.

Der Nürnberger Prozeß

Am 18. Oktober 1945 erhob in Berlin der Internationale Militärgerichtshof der vier Siegermächte (USA, UdSSR, Großbritanien und Frankreich) Anklage gegen die faschistischen Hauptkriegsverbrecher. Am 20. November wurde das Verfahren in Nürnberg eröffnet. Fast ein Jahr später endete der Prozeß mit 12 Todesurteilen, 7 langjährigen Haftstrafen und 3 Freisprüchen. Die Bevölkerung verfolgte aufmerksam die Verhandlung im Rundfunk und in der Presse. Bis zuletzt versuchten sich die meisten Angeklagten damit herauszureden, daß sie von den Greueltaten nichts gewußt hätten.
Die Entnazifizierung
Gemäß Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5.3.1946, mußten alle Personen ab 18 Jahre durch Spruchkammern überprüft werden. Die Betroffenen sollten in fünf formale Kategorien eingeteilt werden, nämlich 1. Hauptschuldige, 2.Belastete (Aktivisten, Militaristen Nutznießer), 3. Minderbelastete (Bewährungsgruppe) 4. Mitläufer, 5. Entlastete. Jedoch schon bald wurde der nicht unbegründete Ausspruch populär „die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen“. Die Kommunisten in den drei westlichen Besatzungszonen geben 1948 ihre Mitarbeit in den Spruchkammern auf. In einer Pressemitteilung vom 5. März 1948 erklärt die KPD Württemberg-Baden damals, „ 92% der betroffenen Personen aus den einfachen Volkskreisen mußten die ganze Härte des Gesetzes über sich ergehen lassen. Die Wirtschaftsführer der Nazi-Kriegswirtschaft blieben jedoch vollkommen unangetastet. Eine große Anzahl ehemaliger Nationalsozialisten sitzt heute erneut in hohen und höchsten Stellungen.“ Die Mitglieder der KPD lehnten mit ihrem Austritt aus den Spruchkammern die Mitverantwortung für diese Praxis ab.

Die Hessische Verfassung und der Artikel 41

Das 1945 neugegründete Land Hessen gab sich 1946 eine Verfassung. Ihr Entwurf wurde von CDU, SPD und KPD gegen die Opposition der Liberaldemokratischen Partei (der heutigen FDP) durchgesetzt. Am 1. Dezember 1946 ist er zur Volksabstimmung gestellt worden. 76 Prozent der Wahlberechtigten waren dafür. Der Militärgouverneur Clay hatte außerdem verlangt, daß über den Sozialisierungsartikel 41 gesondert abgestimmt wurde. Hier ergab sich eine Mehrheit von fast 72 Prozent. Die so zustandegekommene Hessische Landesverfassung trägt noch viele Merkmale der damaligen Zeit. Sie wurde geschaffen von Antifaschisten und Demokraten, die den Nazi-Terror überlebt und die entscheidenden Lehren aus diesem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte gezogen hatten. Artikel 29 schreibt zum Beispiel ein einheitliches Arbeitsrecht für alle Angestellten, Arbeiter sowie Beamten vor, garantiert das Streikrecht und verbietet die Aussperrung. Monopolistische Machtzusammenballung in der Wirtschaft wird „untersagt“ (Artikel 39). Der Artikel 59 wurde für die praktische Politik der Zukunft wichtig: unentgeltlicher Unterricht an allen Schulen und Hochschulen, also auch an den Gymnasien. Dadurch erhielt Hessen für viele Jahre im Westen eine Sonderstellung. Auf dieser Grundlage begann die gezielte Förderung von Arbeiterkindern. Ein progressives Moment war auch die Einführung von Volksabstimmungen, Volksbegehren und Volksentscheid (Artikel 71 und 116). Am 1. Dezember 1946 wurde in Hessen auch abgestimmt über den Artikel 41. Um was ging es dabei? Die Väter der Hessischen Verfassung, Sozialdemokraten, Kommunisten und sozial eingestellte christliche Politiker, gingen damals von den Lehren der jüngsten Geschichte aus. Sie besagten: Man darf es nicht noch einmal zulassen, daß wirtschaftliche Macht zu politischen Zwecken mißbraucht wird. Die Großindustrie und die Großbanken, also die Großkapitalisten, sollten nicht noch einmal die Möglichkeit erhalten, einen neuen Hitler an die Macht zu bringen, oder solche Parteien und Gruppen finanziell zu fördern, die bereit wären, für die Bewahrung der Privilegien einer kleinen Schicht die demokratischen Rechte der Bevölkerungsmehrheit zu beseitigen. Deshalb erarbeitete man den Artikel 41 der Hessischen Verfassung, der vorsah, folgende Schlüsselindustrien in Gemeineigentum zu überführen:

1. Bergbau (Kohlen, Kali, Erze),
2. Betriebe der Eisen- und Stahlerzeugung,
3. Betriebe der Energiewirtschaft,
4. das an Schienen oder Oberleitungen gebundene
4. Verkehrswesen.

Gleichzeitig bestimmte Absatz 2 des Artikels 41, daß Großbanken und Versicherungsunternehmen vom Staat beaufsichtigt oder verwaltet werden. Von diesem gesamten Verfassungsartikel wurde in der Folgezeit nicht ein einziger Buchstabe verwirklicht. Heute sind diejenigen, deren wirtschaftliches Eigentum in Gemeineigentum überführt werden sollte, reicher und mächtiger denn je zuvor. Heute üben diese Gruppen ihre Herrschaft in unserem Land unumschränkter aus denn je. Und wiederum mißbrauchen diese Herrschaften ihre wirtschaftliche Macht für politische Zwecke. Für den Artikel 41 stimmte am 1. Dezember 1946 eine eindeutige Mehrheit, 71,9 Prozent der hessischen Wähler, nämlich 1.081.124. Dagegen stimmten 422.159. War schon diese gesonderte Abstimmung über einen Artikel der Verfassung auf Befehl der amerikanischen Besatzungsmacht zustande gekommen, weil diese sich erhoffte, daß, wenn schon keine Mehrheit gegen die gesamte Hessische Verfassung, so doch wenigstens eine gegen den „Sozialisierungsartikel“ möglich sei, so begann nach der Volksabstimmung die Dollar-Demokratie der US-Besatzungsmacht noch tollere Kapriolen zu schlagen. Die Amerikaner erteilten den Befehl, daß der Artikel 41 nicht zu verwirklichen sei. Sie erteilten weiter den Befehl, daß die KPD-Minister aus der Regierung zu entlassen seien, obwohl die KPD bei den gerade stattgefundenen Wahlen drei Sitze hinzugewonnen hatte und mit der SPD (38 Sitze) eine absolute Mehrheit von 48 Mandaten bei insgesamt 90 Landtagsabgeordneten hätte herstellen können. Statt dessen ging die SPD auf Befehl der Amerikaner mit der CDU in eine Koalitionsregierung, und damit war auch im politisch-parlamentarischen Raum der Anfang der dann folgenden Restaurationsperiode gegeben. Sozialdemokratischer Wirtschaftsminister - und mithin zuständig für die Verwirklichung des Artikels 41- wurde ausgerechnet ein Herr Koch, der bis Kriegsende Prokurist des Flick-Konzerns war. Und Buderus in Wetzlar gehörte zu den Betrieben, die in Gemeineigentum überführt werden sollten. Und Buderus gehörte zum Flick-Konzern. So wurde das gemacht!

Bemerkungen zu einem alten Thema

Das Thema Vereinigung von SPD und KPD im Jahr 1946 war nicht nur ein Prozeß, der im Osten Deutschlands zur SED führte, sondern ein Vorgang, der sich in allen Zonen des vom Faschismus befreiten Deutschland mit heftigen Diskusionen und praktischen Versuchen vollzog. Dieser Prozeß wäre als „Kunstprodukt von oben“ nicht möglich gewesen. Es entsprach einem grundlegenden Lebensgefühl nach 1945, Fehler der Vergangenheit nicht mehr zu wiederholen. Es lagen zwölf Jahre grausamer faschistischer Diktatur hinter den Menschen. Tausende Sozialdemokraten und Kommunisten waren ermordet worden. Deutschland und halb Europa lagen zerstört. Millionen Tote säumten den Weg des Faschismus. Aus dieser Katastrophe galt es, Lehren zu ziehen. Eine der wichtigsten war: Um Faschismus und Krieg zu verhindern, bedarf es künftig der Einheit der linken und demokratischen Kräfte. Ein Kernstück dieses Prozesses war der Wunsch, daß die Arbeiterklasse einheitlich handeln sollte. Nicht Bruderkampf wie vor 1933, sondern Einheit der Arbeiterparteien SPD und KPD. Das war die Schlußfolgerung aus jahrzehntelanger Erfahrung, aus der Niederlage der Arbeiterbewegung 1933 und aus dem faschistischen Krieg. Wer diesen Ausgangspunkt nicht mehr an den Anfang der Diskussion um die Vereinigung stellt, trägt zur Deformation der Debatte bei. Wer darüber hinaus ohne Bezug zu dem damals schon beginnenden kalten Krieg und den unterschiedlichen Herangehensweisen der vier Besatzungsmächte argumentiert und deren Interessen nicht mit einbezieht, kann keine wahre Geschichtsbetrachtung leisten. Die heute unter dem Schlagwort „Zwangsvereinigung“ geführte Diskussion wird der historischen Bedeutung dieser Prozesse nicht gerecht. Wir haben es bei dieser Debatte - die vor dem Hintergrund der Niederlage der sozialistischen Länder und der kommunistischen Parteien in großen Teilen der Welt geführt wird - mit einer politischen Diskussion zu tun, die den geschichtlichen Zusammenhang völlig ausblendet und nur eine Botschaft vermitteln soll: „Alles Zwang in der Sowjetzone und im späteren Unrechtsstaat DDR“. Das ist ein dürftiges politisches Konzept, von dem aus historische Ereignisse nicht beurteilt werden können. Darüberhinaus soll diese Schlagwortdebatte den aktuellen Fragen des Zusammenwirkens von SPD und PDS in den Parlamenten der neuen Bundesländer einen Riegel vorschieben. Die SPD hat in zahlreichen Tagungen dieses Frühjahrs die Souveränität nicht aufgebracht, von einem historisch sachlichen Standpunkt aus die Ereignisse vor fünfzig Jahren zu beurteilen. Von „Zwangs- und Betrugsvereinigung“ ist die Rede. SPD-Funktionäre aus Beeskow aus dem Jahr 1945 werden zitiert: „Die KPD hat früher nichts getaugt und jetzt erst recht nicht.“ Kurt Schumacher wird beschworen, er habe den Demokratiebeteuerungen zutiefst mißtraut und damit habe er recht gehabt. Mit diesem Herangehen hat selbst die bürgerliche Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ ihre Probleme. In einem ganzseitigen Artikel vom 15. März 1996 kommt sie zu dem Schluß: „Die sozialdemokratische Interpretation der SED-Gründung im April 1946 lautet: Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD. Die Geschichte aber verlief anders - zumindest am Anfang.“ Und weiter heißt es: „Die Parole der Einheit war anfangs gerade bei den Sozialdemokraten im früheren Mitteldeutschland außerordentlich populär und flügelübergreifend verbreitet, die Sozialdemokraten riefen unmittelbar nach dem Ende der Hitlerdiktatur am lautesten nach der Einheit der Arbeiterklasse, sehr viel nachdrücklicher als die Kommunisten.“ In dieser Auseinandersetzung hat sich die PDS im wesentlichen um einen ausgewogenen historischen Standpunkt bemüht. Mit einer Vielzahl von Foren, Veranstaltungen und Artikeln versuchte sie, von der Lage von 1945-46 auszugehen und mußte dabei feststellen, daß ein wirklicher Dialog mit der SPD zur Zeit nicht möglich ist. Dr. Günter Benser (Historische Kommission der PDS) zog im „Neuen Deutschland“ die Schlußfolgerung: „Es wäre vielleicht sinnvoll, nach diesem Jahrestag ein halbes Jahr verstreichen zu lassen und dann noch einmal die Diskussion abzuklopfen und zu fragen: Wo gibt es Übereinstimmung? Wo sind unüberbrückbare Meinungsunterschiede vorhanden? Muß man sie alle überbrücken? Kann man nicht manches als Anderssein zur Kenntnis nehmen? Was ist dabei politisch relevant und was nicht?“ Dieses differenzierte Herangehen ist zur Zeit mit der „Zwangsvereinigungstheorie“ der offiziellen SPD-Politik nicht zu koordinieren. Die SPD legt Wert darauf, als „Opfer der Gewalt in der Sowjetzone“ und anderswo zu erscheinen. Ein positives Mitwirken am Zusammenschluß von SPD und KPD 1946 darf nicht sein. Die CDU/CSU nutzt jede Gelegenheit, der SPD die Beteiligung am Zusammenschluß vor 50 Jahren vorzuhalten. Genüßlich rückt sie die SPD in die Nähe der Kommunisten und sucht so, ein Klima politischer Unzuverlässigkeit gegen die SPD zu erzeugen. Die Quintessenz der reaktionären Kräfte ist einfach: Wer, wann immer, mit den Kommunisten zusamengearbeitet hat, muß verurteilt werden. Diese vom bloßen eigenen Machterhalt geprägte Debatte der CDU/CSU treibt die SPD zurück. Angesichts dieser Angriffe produzieren SPD-Politiker in Bonn immer schroffere Abgrenzungsbeschlüsse von der PDS. Die Vereinigung von SPD und KPD 1946 wird so zur Totschlagskeule gegen mögliches vernünftiges, gemeinsames Handeln von SPD und PDS in den neuen Bundesländern. So ist die Diskussion über einen wichtigen historischen Vorgang vor 50 Jahren vollkommen entstellt. Sie dient den reaktionären Kräften, voran der CDU/CSU, als Schlagstock gegen demokratische, linke und sozialistische Kräfte. So sollen die politischen Verhältnisse weiter nach rechts getrieben werden. Wie oft in der Geschichte, so gibt es auch heute Alternativen zu dem gefährlichen reaktionären Kurs der Regierenden in Bonn. Unter anderen historischen Bedingungen ist die alte Frage wieder neu gestellt: Kommt es über die praktischen Erfordernisse der Klassenauseinandersetzungen heute zum Bündnis der Linkskräfte? Erinnern sich Gewerkschafter, Sozialdemokraten, Linkssozialisten und Kommunisten der alten Erfahrungen der Arbeiterbewegung, wonach nicht Bündnisse mit den Kapitalbesitzern und ihren Parteien, sondern nur gemeinsames Handeln soziale und demokratische Errungenschaften sichern kann? Lernen SPD, PDS und Grüne, auf Länder- und Bundesebene parlamentarisch zusammenarbeiten? Aus der Beantwortung solcher und ähnlicher Fragen kann die Kraft wachsen, die eine Alternative zum heutigen Rechtskurs darstellt. Die Lehren der Geschichte könnten dabei äußerst hilfreich sein.